Ein mysteriöses Phänomen beschäftigt die Musikwelt.
Ein von anonymen Betreibern betriebener Youtubekanal bringt eine Selektion an Opernbeispielen des gesamten 20.Jahrhunderts, um Vergleiche zwischen früherer und heutiger Gesangstechnik
anzustellen.
Nun war die Kunst immer damit konfrontiert, daß Traditionen hochgehalten und höher bewertet werden als die gegenwärtigen Ausbildungsinhalte.
An den Ausbildungsstätten haben sich die Lehrpläne ständig erweitert und verändert, sodaß der Vorwurf, bestimmte Techniken oder musikalische Praktiken wären ausgestorben auch eine Berechtigung
besitzt.
Gleich vorweg, der Stilpluralismus in der modernen Ausbildung in Kombination mit den allgegenwärtigen Klangbeispielen macht es den gegenwärtigen Studenten schwer, mit jenen Vorbildern
mitzuhalten, die nicht in derselben Vielfalt und Bandbreite unterrichtet wurden.
Zum Beispiel gab es früher auch Nationale Musiziereigenheiten, die viel hartnäckiger verfolgt wurden und die der Abgrenzung dienten. Entweder, um die Arbeitsplätze im eigenen Land zu sichern, in dem man den besonderen Klangstil definierte, oder um im Interesse eines Nationalgefühls einen internationalen "Wettbewerb der Eigentümlichkeit" zu gewinnen.
Daher ist der Vergleich moderner Aufnahme mit älteren nicht immer fair.
Es muß zudem festgestellt, daß die Aufführungspraktiken weniger erforscht waren und daß dem subjektiven Ausdruck und Gefühl wesentlich mehr Platz gegeben wurde als heute.
Postwendend folgt der Vorwurf, es gäbe heute keine Persönlichkeiten mehr, die ihre Individualität künstlerisch ausdrücken konnten. (wie denn auch? wenn der internationale Vergleich, in dem eine
Aufnahme in Sekundenschnelle weltweit verbreitet werden kann, sofort Nachahmer und Schüler inspiriert.)
Und in der nächsten Antwort könnte man sagen, daß einige berühmte Sänger wie heute vermutlich an der Hürde scheitern würden, eine einzige Agentur zu finden, aufgrund ihrer technischen
Unzulänglichkeiten.
Umgekehrt heißt es, daß die Fixierung auf technische Perfektion brave Musiksklaven hervorgebracht haben, die zu individuellem Ausdruck gar nicht mehr fähig wären. (Im Sinne des Musikbusiness, das
Leistungen nach Marktwirtschaftlichem Potential beurteilt, ist die Abweichung von der Standardleistung möglicherweise gar nicht erwünscht.)
Zurück zur Ausgangsfrage:
wie gehen wir damit um, wenn ein anonymer Youtube Kanal behauptet, aufgrund sorgfältiger Recherche von Gesangsaufnahmen den Musikbetrieb und den gesamten Ausbildungsbetrieb in Frage stellen zu
können?
Dem Habsburgerkaiser Ferdinand II. der Gütige wird die Antwort nachgesagt auf den Bericht, daß Menschen eine Revolution begonnen haben: Ja, dürfen's denn das?
Darf man denn die Errungenschaften der Musikuniversitäten und die Luxusprodukte des Musikbusiness in einem Zug kritisieren und mit ihren Schwächen konfrontieren?
Man kann, darf, und ich finde, man muß...
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DIe Kritik ist auf dem Tisch....
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was tun wir jetzt?
welche Möglichkeit können wir ergreifen, um daraus den besten Nutzen zu ziehen?
Können wir versuchen, ein System zu reformieren, wenn es offensichtliche Unzulänglichkeiten aufweist?
Vermutlich wird zuerst eine Polarisierung stattfinden
zwischen den Nutznießern des Systems, die sich existentiell angegriffen fühlen und ihre, meist gutsituierte Position verteidigen müssen.
und jenen, die sich dem System nicht unterordnen wollten oder konnten.
Natürlich wird es zunächst als Neiddebatte beginnen, Kritik wird von seiten des Systems abgestritten, die Gegenseite als Versager eingestuft, die ihre Unfähigkeiten auf anderem Wege rechtfertigen
wollen.
Allerdings gibt es die riesige Gruppe an Studierenden, die - unter dem gewaltigen Karrieredruck - vor der Entscheidung steht, den bestmöglichen Weg zu wählen.
Akademisch geprüfte Meinungen nachzubeten ist bequem und beschert einem gute Zeugnisse.
Wenn die Argumente der Gegenseite berücksichtigt werden, ergibt sich allerdings ein großer Konflikt.
Kunstdiskussionen werden nicht rational entschieden.
Das bekannteste Beispiel der Geschichte ist bestimmt Arnold Schönberg, der aus seiner Kompositionstechnik eine Glaubensrichtung gemacht hat.
Selbst wenn sich Fachleute einigen können - man denke an Wagners Meistersinger - die eigentliche Entscheidung wird vom Publikum getroffen.
Es nützt dem Künstler wenig, in seiner Position recht zu haben und sich als verkanntes Genie zu fühlen und sich in Privataufführungen seine eigene kleine Welt zu schaffen.
Andererseits haben Fachleute, deren Job man in Frage stellt, ein existenzielles Problem.
Die Subventionierung der klassischen Musik hängt stets an einem seidenen Faden - öffentliche Diskussionen über mögliche Fehlentwicklungen können ganz unangenehme Wirkungen haben.
Wie gehen wir das Problem an?
mit Gegendarstellungen?
mit dem Argument des künstlerischen Fortschritts?
Der Kanal "this is Opera" geht auch sehr raffiniert vor, indem auch die früheren Stars kritisiert und ihre Fehler gezeigt werden. Also findet kein Vergleich statt unter dem Motto: Früher war
sowieso alles besser!
Außerdem gebe ich zu bedenken, daß unsere Tonaufzeichnungen den Mangel aufweisen, die wirklich wichtigen Zeitzeugen nicht berücksichtigen zu können, nämlich die Komponisten selbst.
Ich möchte diese Herausforderung gerne akzeptieren um zu einer neuen künstlerischen Synthese zu gelangen.