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Moderne Musik - was bedeutet das heute?

Die Kategorien der Musikgeschichte werden von Jahr zu Jahr immer unklarer. Die vereinfachte Darstellung von Klassik - Romantik - Moderne mag für den Schulunterricht eine Zeitlang praktisch gewesen sein oder für die Tonträgerindustrie, die ohne Schubladen nicht auskommt.

Musik des 20.Jahrhunderts war auch lange Zeit ein Schlagwort, um Konzertbesucher abzuschrecken - jetzt ist dieses Jahrhundert längst vorbei und noch ist mir keine Idee aufgefallen, die zur Lösung dieses Problems beitragen würde.

Den Ausdruck Postmoderne halte ich für ähnlich überflüssig, wie jene Beurteilungen, die von goldenen und silbernen Äras sprechen. 

Konkret ist es mir wichtig, den bisher verwendeten Begriff der modernen Musik zu eliminieren und andere Ansätze vorzuschlagen.

Zuerst stellt sich die Frage, ob Kategorien überhaupt notwendig sind, ob historische Einordnungen nicht a priori verkürzte Darstellungen sind. 

Die Menschen, die in derselben Epoche leben, haben scheinbar ähnliche Lebensbedingungen, aber immer schon unterschiedliche Zugänge zur Musik. 

Das Aufwachsen in einer musikalischen Familie oder Umgebung steht im Widerspruch zu Einzelbegabungen, die sich die musikalische Beschäftigung erkämpfen mußten.

Soziologische Kategorien werden, bezogen auf Künstlerpersönlichkeiten, wenig bewirken - eher noch die Beschreibung des beruflichen Umfeldes.

Die Unterscheidung zwischen Musiker-innen in höfischem und  kirchlichem Dienst ist eine kleine Hilfe, die aber mit dem 19.Jahrhundert an Bedeutung verliert.

Zum einen wird es auch immer Musiker-innen in beiden Bereichen gegeben haben, sodaß die Unterscheidung anhand der komponierten Werke auch nicht ausreicht.

Die frühere Einteilung in Handwerksschulen und später in nationale Schulen war lange wichtig, hat sich aber mit der wachsenden Mobilität der Menschen verändert und mittlerweile aufgehoben.

Generell läßt sich natürlich feststellen, daß Musik als Identifikation für Gruppen immer wichtig war, entweder als verbindendes oder trennendes Element. 

Die Bemühungen, nationale Stile auseinanderzuhalten, haben mit der Identitätsfindung allgemein zu tun.

Wie allerdings ist in diesem Zusammenhang die Begeisterung für europäische Musik in Ländern wie China, Japan und Korea zu erklären?

Hier scheint die europäische Musik ein symbolisches Produkt zu sein, daß essentielle kulturelle Unterschiede verschleiert.

Ich finde immer schon tragisch, daß missionarische Kulturreisen (Tourneen) in diese Länder gemacht werden, aber kein Funken Interesse an den Traditionen oder kulturellen Begriffen dieser Länder besteht.

Den Unterschied zwischen der 'angeborenen Kultur' und der 'erlernten' halte ich für ein psychologisches Phänomen. 

In meiner künstlerischen Entwicklung war der Blick über den Tellerrand der Stadt Wien hinaus sehr bedeutsam,

 - zum einen das Anerkennen anderer künstlerischer Metropolen und Zentren 

 - und zum anderen im Hinblick auf etwas wie "Lauterkeit künstlerischer Absichten" und "Ehrlichkeit des künstlerischen Strebens"; zwei furchtbar konservative Begriffe, die ich auf den oben erwähnten Unterschied zwischen Musikerfamilien und Einzelpersonen mit starker künstlerischer Motivation beziehe. (Hier kommt auch Autobiografisches hinzu)

Eine andere Definition wäre der Generationenbezug der Künstlerischen Personen:

Künstler_innen der ersten Generation müssen ihren Lebensweg weitgehend gegen ein nichtkünstlerisches Umfeld durchsetzen - eine starke Motivation.

 

Künstler_innen der zweiten Generation bauen auf den Erfahrungen der Eltern auf, und haben entweder keinen Widerstand, sondern Unterstützung oder starken Widerstand, da ein Konkurrenzverhältnis entsteht. (Johann Strauß Vater / Sohn ist eins der bekanntesten Beispiele) In jedem Fall aber wachsen die Kinder in dem künstlerisch definierten Umfeld auf und verfügen selbstverständlich über Methoden und Umgangsformen.

Mit jeder weiteren Generation kann sich das künstlerische Talent innerhalb einer Familie verstärken, aber es kann nach außergewöhnlichen Familienmitgliedern auch eine Veränderung einsetzen. (im Fall der Familie Bach wird schwer zu ergründen sein, warum die Enkelgeneration von Johann Sebastian nicht mehr namentlich bekannt ist: ob die erdrückenden Fähigkeiten der Eltern und Großelterngeneration zu Resignation geführt haben? ob man es ein Absterben der Musizierfreude nennen kann, wenn die Anforderungen derart hoch sind?)

In Wien sind viele Musikergenerationen im Zusammenhang mit dem Philharmonischen Orchester und mit den Sängerknaben zu finden.

Allerdings müssen auch die Machtpositionen jener Institutionen und deren Auswirkungen auf die gesamte Österreichische Kultur mitbedacht werden, ob bei einer künstlerischen Erbfolge nicht das Bewahren der Macht im Vordergrund steht.

Schließlich lassen sich Kompositionstalente nicht in derselben Weise vererben wie die Musizierfähigkeiten.

Es gibt aber auch unterschiedliche schöpferische Talente in einer Familie - am Beispiel der Komponistin Katharina Gebauer, die einen Bildhauer als Großvater und einen Maler als Urgroßvater hat. Es muß in dieser Familie wohl ein vererbtes Verständnis für kreatives Verhalten  bzw.  schöpferische Tätigkeiten geben, die solche Talente ermöglicht haben.

DIe Vielfalt künstlerischen Ausdrucks ist dennoch erstaunlich, hier wurden keine Verhaltensweisen fortgeführt sondern neue erschlossen, um sich vom Vorhergehenden zu unterscheiden,

Für die gegenwärtige Zeit ist bestimmt die Motivation der einzelnen Personen die wichtigste Quelle der Kreativität.

In den Biografischen Beschreibungen finden sich bei vielen Komponisten Berichte über die Widerstände der Umgebung, gegen die sich sich durchsetzen mußten. 

Ich finde es an der Zeit, gruppendynamische Überlegungen miteinzubeziehen, denen zufolge die Berichte über befreundete und feindlich gesinnte Cliquen als normaler Sozialisierungsprozeß zu sehen sind und nicht als Beweis für die Qualität der Komposition.

Das Gefühl, von der Mitwelt unverstanden zu sein, ist kein Beweis der Überlegenheit.

Besonders schwierig finde ich, wenn Komplexität als "der Zeit voraus sein" umschrieben wird. 

Gewiß ist es richtig, daß technische Planungen nicht immer umsetzbar ist - schließlich ist es auch leichter, komplexe Strukturen zu entwerfen, als sie künstlerisch zu realisieren.

In der Architektur übernimmt das Gebiet der Statik die Aufgabe der realistischen Umsetzung. In der Musik fehlt eine solche am menschlichen Umsetzungsvermögen orientierte Richtung.

Das bekannte Beethoven Zitat von der "elenden Geige", lässt sich bei Gesang noch viel besser anwenden... auch heutzutage sind manche gesanglichen Anforderungen nur mit ungesunden und schädlichen kurzfristigen Extremleistungen zu bewältigen.

Völlig mysteriös bleiben manche komponierte Takte, die in dem erwarteten Tempo bis heute nicht realisierbar sind. An dieser Stelle von geistiger Überlegenheit Beethovens zu sprechen, scheint mir unangemessen.

Vermutlich hängt der Begriff des Unspielbaren sehr mit Beethoven zusammen, der Ehrgeiz komponierender Künstler, den Interpreten vorwiegend Hürden in den Weg zu legen, ist fragwürdig, oft wird nur mit einer umständlichen ineffizienten Notation nachgeholfen, um kurzfristig unverständlich und rätselhaft zu erscheinen.(Ein Egoproblem...)

In diese Kategorie gehören auch enharmonische Tricks im 19.Jh., das Bevorzugen             entfernter Tonarten, chromatischer Modulationen und Sequenzen. (Mit Hilfe von Notationsprogrammen lässt sich leicht beweisen, daß ein Stück mit identischem Inhalt in Cis Moll leichter zu lesen ist als in Des Moll. Die Bewältigung der optischen Schwierigkeit halte ich für sinnlose Zeitverschwendung.)

Es ist ein ähnliches Problemgebiet wie in der Sprachwissenschaft. Vokale und Konsonanten, die mehrere Buchstaben benötigen oder deren Bedeutung sich je nach Zusammenhang ändert, werden schwer zu erlernen sein.

So ist auch die Definition einer Tonhöhe durch mehrere Zeichen ein klares Hindernis.

Die generellen Vorzeichen einer Tonart in Kombination mit Auflösungszeichen bei größeren Modulationen bringen vermeidbare Schwierigkeiten mit sich. In der klassischen Moderne kommt es häufig vor, von der Grundtonart innerhalb weniger Takte in sehr entferne Tonarten zu modulieren (z.B: Des-Dur - E Dur) - die atonale Notation ohne generelle Vorzeichen bringt hier Verbesserungen.

Besonders eigenartig ist die Gewohnheit in der 2. Wiener Schule, jede Note mit Auflösungszeichen zu versehen. Im Klavierauszügen von Alban Berg kann man eine Menge dieser unnötigen Auflösungszeichen löschen und wird dadurch zu größerer Klarheit gelangen.                                                                                 

Die oft geäußerte Forderung, die "Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern" ist beim Gesang unsinnig, die Möglichkeiten des Gesangs wurden in den letzten 300 Jahren zur Gänze erforscht. Dieselben gesanglichen Merkmale, die schon in der klassischen Harmonielehre kritisiert (und verboten) wurden, bleiben auch heute Fehlerquellen.

Durch die belegbare Veränderung der Körpergröße des Menschen ist natürlich auch die Stimme betroffen - mir scheint eine Neuorientierung hin zu tieferen Tönen - entsprechend den längeren Stimmbändern -  sinnvoller, bzw. die Überlegung, die Stimmtonhöhe variabler zu gestalten und nicht ausschließlich am Orchesterklang festzumachen.

Das 20. Jahrhundert zeichnet sich vor allem als Jahrhundert der Kompositionstechniken aus. Die Suche nach "neuen" Klängen hat immer verzweifelte Ausmaße angenommen.

Klarerweise sind in Mikrotonalität noch unzählige Möglichkeiten enthalten, nur müßte das Instrumentarium konsequent angepaßt werden.

Die elektronische Musik sehe ich eher als Sackgasse. 

Die Frage, ob damit die diatonischen Tasteninstrumente sterben, ist naheliegend. Die Aufteilung der Oktave auf mehr als 12 Tasten scheint mir physisch nicht umsetzbar. Das Spiel auf zwei Manualen bei einer Orgel oder die geteilten Tasten bei Barockorgeln eröffnet nur sehr begrenzte spieltechnische Möglichkeiten. 

Die Konsequenz, mit modernen Instrumenten die alte Musik (für traditionelle Instrumente) nicht mehr spielen zu können, wäre ein schwerer Verlust.

Die Spaltung im Musikbetrieb in HIP, Klassisch und Zeitgenössisch, sowie die zahlreichen "U-Musik" Stile halte ich für traurig - und ich versuche mehrere Strategien, um die Hindernisse zu überwinden und die Gegensätze aufzuheben, da ich sie als konstruierte Gegensätze sehe, nicht als gegebene. 

Versuch, neue Kategorien zu definieren: 

funktionale Musik: 

Repräsentative Musik der Höfe (und der Kirche)

liturgische Musik der Kirche

funktionale Musik des Militär

Musik zu bestimmten gesellschaftlichen Anlässen (Hochzeiten, Feiern, Begräbnisse...)

Tanzmusik

Musik in Verbindung mit Texten

pädagogische Werke

Musik im kleinen Kreis (beschränkte Öffentlichkeit) 

Die Musik des Bürgertums zählt für mich klar zur repräsentativen. Sich in goldenen Sälen zu versammeln und dort eine Symphonie zu hören ist eine repräsentative Funktion.

Stadionkonzerte der Gegenwart sind eine Repräsentation der Konsumentenmasse, die ihren gemeinsamen Musikgeschmack feiert und dadurch Teil des Kunstereignis ist.

Vielleicht eine gewagte Theorie, zu behaupten, daß es in erster Linie darum geht, Massenveranstaltungen zu besuchen und das Erlebnis der Großversammlung zu genießen... die Musik zählt auch dazu, ist aber manchmal auch Nebensache.

Ich bestreite hier, daß es nonfunktionale Musik überhaupt gibt. Das wäre meine Antwort auf Eduard Hanslick, dem es in der Diskussion eher um konkrete oder abstrakte Inhalte ging ( was zu beweisen wäre---); die Idee des Selbstzweck wurde vermutlich von Karlheinz Stockhausen perfektioniert.

Wichtig finde ich, daß zu keiner Zeit eine Verpflichtung bestand, die "wichtige Musik" hören 

 zu müssen. 

Die Kunst der Fuge kann einem Hörer helfen, polyphone Strukturen und Kompositionsweisen zu erlernen. 

Weiters gibt es Untergruppen zu jeder Kategorie, die ich mit:

Musik mit vorwiegend emotionaler Wirkung

und

Musik mit starkem konstruktiven und formalen Bezug, bei der die Kompositionstechniken im Vordergrund stehen.

Eine Fuge hat für mich niemals einen emotionalen Inhalt, die diesbezüglichen Versuche Beethovens sehe ich als Experimente. 

Der Unterschied zwischen barocken Affekten und romantischem Ausdruck sehe ich vor allem in den Stimmsystemen begründet. Dort, wo die Tonartencharakteristik akustisch belegbar ist, kann man die blumigen Beschreibungen der Barockzeit mühelos nachempfinden. Ich habe es immer besonders lächerlich gefunden, Werke in gleichschwebender Temperatur irgendeine Charakteristik zuschreiben zu wollen... der Ersatz dafür ist vermutlich das pianistische (=unechte) Rubato, also die willkürliche Tempogestaltung eines Musikstücks.

Echtes Rubato bezieht sich auf eine Singstimme, die Begleitung bleibt ddavon unberührt.

die nächste Untergruppe betrifft die Tonsysteme, also Modale Musik, Dur/ Moll-Tonale Musik, gemischt Atonale und Rein Atonale Musik und erweiterte Tonsysteme.

Der theoretische Unterschied zwischen rein- und gemischt atonal besteht für mich in der Feststellung, daß die Emanzipation der Dissonanz erst erreicht ist, wenn die Wertigkeit der Intervalle aufgehoben wurde.

Die primäre- Rein Atonale Musik hatte zunächst zum Ziel, die konventionelle Bedeutung von Konsonanzen und Dissonanzen zu vertauschen. Im Zuge der technischen Entwicklung wurden zunächst klassische Konsonanzen eliminiert oder in der Stimmführung als Übergangsnoten definiert. (Schönberg: Konsonanzen auf den schlechten Taktteil... Zitat suchen)

 Mir ist es wichtig, den Begriff der "romantischen" Musik zu vermeiden...

 weil er eigentlich einer Literaturgattung entlehnt ist.

weil die Definition von romantischem Ausdruck mit der Zeit immer fragwürdiger wurde

weil es in jeder Musikgattung und -epoche emotionale Momente gibt, die dem "romantischen" entsprechen.

Die Verwendung von Musik zur Verstärkung und Suggestion bestimmter Gefühlszustände war immer schon belegbar. Jedes Liebeslied ist gleichzeitig ein romantisches, der Kompositionsstil hat darauf keinen Einfluss.

Philosophische Einflüsse auf die Musik halt ich für bedeutungslos. Den Versuch Richard Strauss mit "Also sprach Zarathustra" halte ich für ein musikalisches Kuriosum und eine zeitlich begrenzte Modeerscheinung. Die Musik trägt nichts zum Verständnis der Werke Nietzsches bei, lediglich läßt sich eine gewisse selbstbewußte Übermensch-melodik oder -thematik bei Richard Strauss dokumentieren... gekennzeichnet durch punktierte Rhythmen, große Intervallsprünge und einen auffallenden Ambitus der Melodie.

T. Adorno hat die Musik mit seinen Aufsätzen durchaus beeinflußt, ich fürchte, seine Kompositionen sind weit weniger wirkungsvoll. Aber ich verstehe die Faszination der 12 Tontechnik, die leider durch den Versuch, traditioneller Musikkritik zu entgehen, einen tragischen Dilettantismus hervorgebracht hat. 

Gute Musik von schlechter zu unterscheiden ist auch in der Musik des 20. Jahrhunderts leicht. Der analytische Zugang ist zwar von Theoretikern bevorzugt,

Reduktion der Fantasie als geistige Fesseln zu beschreiben, die einen zu höheren Ergebnissen führen sollen oder die Strenge selbstauferlegter Regeln als Beweis für höchste geistige Disziplin halte ich für raffinierte Marketingstrategien, um die Bedeutung der Musik zu steigern. 

jedoch läßt sich intuitiv auch von Laien feststellen, ob die Musik vielfältig und fantasievoll ist.

 

Gänzlich vernachlässigen kann man in der Kategorisierung die Fragestellung, ob die Musik neu ist. Innovation ist für den technischen Bereich interessant, nicht jedoch für den emotionalen. 

Die Frage, ob man Musik versteht, wird ohnehin überschätzt. Ich ermutige Laien gerne, ihr gefühlsmäßiges Urteil in Worte zu fassen,  es zeigt sich schnell, daß sie musikalische Phänomene gut beschreiben und ihre Wahrnehmungen schildern können.

Das führt mich zu jener Form des Musizierens, bei der man die Wirkung außer Acht läßt und bloß Anweisungen des Komponisten exekutiert. 

Seit dem Erscheinen des Buches über den Emotionalen Intelligenzquotient bzw. dem Aufkommen des Begriffs Empathie unterscheide ich klar, welche Menschen diese mitfühlende Fähigkeit immer schon besessen hatten und wo - speziell im Wissenschafftsbild des 19.Jh. - diese sogar abgelehnt und als Zeichen von Schwäche gesehen wird. Ich halte es für einen Ausdruck eines überkommenen Männlichkeitsbildes, welches stolz auf "geistige Leistungen" ist und Gefühlsbereiche den Frauen "überläßt".

In der Medizin und der frühen Psychologie / Psychiatrie finden sich Experimente, die mit wissenschaftlicher Akribie durchgeführt wurden, ohne jene Berücksichtigung, welche Schmerzen man dem "Objekt" zufügt. Die pervertierte Form dieser Wissenschaft im Nationalsozialismus war vermutlich ein Höhepunkt dieser männlichen Denkweise.

Ein weiteres, harmloseres Merkmal ist der "Konzentrationsgedanke", der Versuch, etwas auf "das Wesentliche" zu reduzieren.

Das Wort reduzieren verrät schon, daß hier vieles weggelassen werden soll, was man für unnötig hält, es entsteht ein Substrat, daß durch eine gedankliche und formale Dichte auf natürlich auffällt. Leider geht damit immer ein lächerlicher Stolz Hand in Hand, ein Bewusstsein, etwas besseres geschaffen zu haben, als jemand, der sich nicht so kurz fasst.

Daraus entwickle ich zwei weitere Kategorien, die schwer zu benennen sind:

sie haben mit Mikro- und Makrokosmos zu tun, mit Liebe zum Detail und großen Erzählungen.

Der Wert eines Gedichts ist nicht höher als der eines Romans, aber es kann mitunter in 4 Zeilen mehr ausgedrückt werden als auf 700 Seiten. 

Anton von Weberns Musik ist in ihrer Gefasstheit beeindruckend, aber deshalb nicht ausdrucksstärker als eine Mahler Symphonie. Wahrscheinlich war Mahlers gigantische Ausdehnungen, bzw. der Orchesterstil des Fin de siécle erst die Motivation, wieder in Richtung Detailarbeit zu gehen und große Formen zu vernachlässigen.

DIe Symphonie als Großform war lange Zeit die "Visitenkarte" eines Komponisten, daran wurden andere gemessen und galten dann als weniger bedeutsam...

Hugo Wolf hat mit seinen Liedern manchen Rekord an Kürze aufgestellt; daß er sich dem technischen Prozeß kompositorischer Verarbeitung weniger gestellt hat, halte ich nicht für ein Qualitätsmerkmal. Allerdings muß diese Beurteilung zu seinen Lebzeiten schmerzhaft für ihn gewesen sein. Ein schwacher Trost, von der Nachwelt mehr Anerkennung zu erfahren, aber ein Beweis für starken künstlerischen Willen. Ähnlich verhält es sich mit den Erzählungen über Schubert, der Beethoven nacheifern wollte. 

Aber welche Leute haben solche Kategorien aufgestellt und die Beurteilung großer Komponisten vorgenommen?

Auch das ist eine Kategorisierung: ob man als Komponist den Zeitgeschmack erfaßt und gut umsetzen kann. Die Popmusik beweist hier phänomenale Ergebnisse, Hits, die innerhalb kurzer Zeit auftauchen, aber oft genausoschnell wieder verschwunden sind.

Andererseits gibt es die bleibenden Meisterwerke, die mehrere Jahrhunderte überdauern können und immer aktuell bleiben. 

Eine Untersuchung über Marketing in der Musikgeschichte kann uns helfen, manche optische Schieflage zu beheben. Die Passionen Bachs sind nicht die einzigen Monumentalwerke der Barockzeit, unsere kompositorischen Wertetabellen dürfen uns nicht zu permanenten Vergleichen führen. Auch die Musik Mozarts hatte viele Vorläufer, die speziell in Österreich nicht bekannt sind, oder auch absichtlich vergessen werden sollen. Eine weitere Untersuchung über italienische Barockzeit wird das beweisen, sowie daß es nur eine einheitliche europäische Klassik gegeben hat, die sich in allen Zentren nach den gleichen Kriterien orientiert hat. (Versailles!)

 

Es ist eine langwierige Untersuchung, wenn historische Darstellungen erneuert werden sollen. Allerdings ist das Auffinden nationalistischer, chauvinistischer und sexistischer Tendenzen in der Kunst ein wichtiger Vorgang, wenn durch diese Tendenzen Wertmaßstäbe verfälscht, Personen bevorzugt und andere unterdrückt wurden.  >

 

Dieser Artikel ist nur als Vorwort  zu verstehen, die eigentliche Arbeit steht erst bevor.

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